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Eigentlich bin ich ja eher für meine Vorliebe für wärmere Gefilde bekannt, wie etwa die Tropen und Australien. Doch dieser Einladung konnte ich nicht widerstehen: Unsere Freunde in Genf organisierten für uns einen Besuch im weltbekannten Schweizer CERN Kernforschungsinstitut. CERN steht für „Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire“, übersetzt also Europäische Organisation für Kernforschung. Die Großforschungseinrichtung liegt in der Nähe des Ortes Meyrin im Kanton Genf in der Schweiz an der Grenze zu Frankreich. Es ist eines der größten und renommiertesten Zentren für physikalische Grundlagenforschung der Welt.
Das riesige Gelände liegt idyllisch zwischen grünen Wiesen und grasenden Kühen und wirkt auf den ersten Blick eher wie eine Lagerhalle. Bereits beim Eingang ahnt man aber, dass es sich hier um etwas Besonderes handeln muss, denn ohne Besucherausweis und Personenkontrolle ist es nicht möglich, den Hochsicherheitstrakt zu betreten. Francesca, die Cousine unserer Freundin Cri, arbeitet dort als Physikerin und war gern bereit, uns ein wenig herumzuführen. Nachdem wir die Eingangskontrolle hinter uns gelassen hatten, befanden wir uns auch schon im Kontrollzentrum, wo die Ergebnisse der Untersuchungen ausgewertet werden. An einem gewöhnlichen Freitag saßen etwa zehn Wissenschaftler vor ihren Bildschirmen und starrten auf unzählige, riesige Monitore, die einzelne Ausschnitte kleinster Explosionen zeigten. Beeindruckend. Und auch ein bisschen verwirrend, denn zu dem Zeitpunkt wussten wir noch nicht so genau, was da eigentlich genau vor sich ging.
Forschung hundert Meter unter der Erde
Ausgestattet mit Schutzhelmen und Besucherausweis fuhren wir dann mit einem Aufzug hundert Meter in die Tiefe. Wir Taucher überlegten uns derweil, ob man wohl einen Druckausgleich machen müsste, aber das war natürlich nicht nötig, weil sich ja der Druck nicht veränderte. Vor dem Zugang zum Heiligsten, dem Teilchenbeschleuniger, ging es dann zu wie bei James Bond. Francesca verschwand hinter einer Schleuse und hielt ihr linkes Auge vor einen Augenscanner. Dieser überprüfte in wenigen Sekunden ihre Pupillenmerkmale und öffnete dann eine weitere Schleuse. Francesca verriet uns, dass sie aus Spaß schon mal versucht hatten, das System auszutricksen. Sie wollte demnach mit dem Ausweis ihrer Kollegin die Schleuse durchqueren, scheiterte aber am Augenscanner. Also können Mitarbeiter tatsächlich nur mit ihrem eigenen Ausweis und nach Kontrolle ihres linken Auges die Kontrolle passieren. Wow.
Kollisionen in Lichtgeschwindigkeit
Jetzt wurde es richtig surreal. Wir überwanden mit Francescas Hilfe diese weitere Zugangskontrolle und standen in einer Halle, so groß wie eine Kathedrale. Diese beherbergte einen gigantischen Teilchen-Detektor für das weltgrößte wissenschaftliche Instrument: ein Teilchenbeschleuniger mit einem Umfang von 27 Kilometern – der LHC, Large Hadron Collider. Der LHC ist der leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger, der je gebaut wurde. Hier suchen Forscher nach den fundamentalen Gesetzen des Universums. Im CERN werden die weltweit größten und komplexesten Geräte genutzt, um die kleinsten Bestandteile der Materie zu erforschen: die Elementarteilchen.
Die Geräte, die CERN zu diesem Zweck einsetzt, sind Teilchenbeschleuniger und Detektoren. Die Beschleuniger bringen die Teilchen auf hohe Energien, bevor sie aufeinander treffen. Die Detektoren beobachten und erfassen die Ergebnisse dieser Kollisionen. Indem sie die Kollisionen von Elementarteilchen untersuchen, gewinnen die Wissenschaftler wertvolle Erkenntnisse über die Naturgesetze.
Kälter als der Weltraum
Etwa 10.000 Wissenschaftler aus 85 Nationen versuchen, die wichtigste Frage überhaupt zu beantworten: Aus was genau sind wir gemacht? Die Protonen im LHC werden auf 99,9998% der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt, in zwei Teilchenstrahlen, die sich in entgegen gesetzter Richtung bewegen. Tausende sehr starker supraleitender Magnete leiten den Protonenstrahl um den riesigen Ring und bündeln sie auf einen Fleck, der kleiner als ein menschliches Haar breit ist – fertig zum Crash miteinander. Diese supraleitenden Magnete arbeiten bei -271° Celsius: kälter noch als der Weltraum. Der LHC ist das größte jemals errichtete Tieftemperatur-Kühlsystem.
Der Zusammenprall erzeugt so viel Energie, das Teilchen, die seit dem Urknall vor etwa vierzehn Milliarden Jahren ausgestorben sind, flüchtig wiedererscheinen, wie etwa das Higgs-Teilchen. Diese Ur-Teilchen überleben nur einen winzigen Bruchteil einer Sekunde, bevor sie in Schauern von bekannteren Teilchen zerfallen. Mit ultraschnellen, ultragenauen Detektoren und modernster speziell angefertigter Elektronik werten die Wissenschaftler oben im Kontrollzentrum diese Kaskaden aus. Ein gigantisches Feuerwerk winzigster Teilchen. Atemberaubend.
Das Zusammenspiel der Detektoren wirkt wie eine 12.500 Tonnen schwere Digitalkamera mit 100 Millionen Pixeln, die 40 Millionen Mal pro Sekunde ein 3-D-Bild der Kollision aufnimmt. Jede Sekunde wird insgesamt ein Terrabyte Daten erzeugt. Das ist in etwa die gleiche Datenmenge, wie die Namen und Adressen aller Menschen auf dieser Erde. Francesca hat Kollegen im Team, die ein halbes Wissenschaftlerleben lang ein einziges Bild auswerten. Unglaublich. Alle diese Daten zu verarbeiten und zu speichern ist einfach nicht möglich. Deshalb filtert die leistungsfähige Elektronik die Datensignale so, dass jede Sekunde nur die Ergebnisse von den hundert interessantesten Kollisionen gespeichert werden.
Wir hatten Glück, denn bei unserem Besuch war der Teilchenbeschleuniger aufgrund von Wartungsarbeiten geöffnet. So konnten wir einen Blick werfen in das Innerste des Teilchenbeschleunigers, wo die Teilchenkollisionen stattfinden. Von hier erhoffen sich die Wissenschaftler grundlegend neue Erkenntnisse über die Entstehung und Zusammensetzung unseres Universums. Uns hat dabei die Frage beschäftigt, ob man sich wohl eines Tages durch die Kraft der Beschleunigung an zwei Orten gleichzeitig aufhalten kann. Das ist zwar leider noch nicht möglich, wäre aber für mich eine sehr attraktive Erfindung, die ich gern nutzen würde. Könnte ich damit endlich alle Freunde auf der Welt auf einmal besuchen. Bis dahin wird aber noch eine Weile geforscht werden müssen. Wenn nicht doch aus Versehen die Befürchtungen mancher Kritiker wahr werden und ein schwarzes Loch entsteht, welches Genf, die Schweiz, Europa und schließlich die ganze Welt verschluckt, werden wir alle von den Forschungsergebnissen profitieren. So jedenfalls die Hoffnung der rund zehntausend Wissenschaftler um Francesca.