Schlagwörter
Affen, Einbrecher, Hundebiss, Impfung, Katzen, Kekse, Krankenhaus, Tetanus, Tollwut

Marble: der tut nichts, der will nur Kekse.
Durch die Ohrenstöpsel, die mich jeden Morgen vor dem allzufrühen Hundegebell schützen sollten, drang ein undeutliches Schimpfen – oder Würgen? – in mein Bewusstsein. Gerade steckte ich noch in einem verrückten Traum, als ich realisierte, dass sich dieses undeutliche Meckern im wahren Leben abspielte. Was war da los?
Ich brauchte ein paar Sekunden bis ich realisierte: das Schimpfen kam vom Liebsten, von irgendwo da draußen. Noch ehe ich begriff, was Sache war, stand ich schon an der Schlafzimmertür und erblickte im dunklen Flur die Gestalt des Liebsten, der würgend an mir vorbei ins Badezimmer stürmte. Verwirrt blickte ich auf den Boden, wo sich eine im Dämmerlicht glänzende Lache ausbreitete, so groß wie ein verwunschener See. Ein eigentümlicher Gestank wehte durch die Wohnung. Aus dem Badezimmer hörte ich den Liebsten rufen: „Marble war hier.“ Ich erstarrte. Marble lautet der Name des riesenhaften belgischen Schäferhunds, den unsere Vermieter halten, und mit dem ich bereits eindringlich Bekanntschaft gemacht hatte, als er mich mit einem Keks verwechselt und meiner Schulter ein Kathmandu Tattoo in Form seines Gebisses verpasst hatte. Offenbar hatte er sich in den Morgenstunden in unsere Wohnung geschlichen, auf der Suche nach den leckeren Keksen, die wir ihm im Auftrag seiner Besitzer gaben, und nicht mehr herausgefunden. Bei der verzweifelten Suche nach einem Ausweg muss er sich vor Angst eingemacht haben. Als der Liebste die Schlafzimmertür öffnete, stand er einem verängstigten Tier mit eingeklemmtem Schwanz gegenüber. Genauso geschockt wie der Hund, öffnete S. ihm den Fluchtweg und beide stürmten in gegengesetzte Richtungen. Der Hund hinaus, S. ins Bad.
Morgenstund hat Keks im Mund
In wenigen Sekunden überblickte ich das Ausmaß des Schreckens: im Flur der vergiftete See, auf dem Wohnzimmerteppich und im Gästezimmer verstreute Häufchen pure Angst, in der ganzen Wohnung tropfnasse Hundespuren. Ich folgte der Spur mit Blicken und erschrak: selbst beim Eingang zum Schlafzimmer prangten eindeutige Abdrücke auf dem Teppich. Mein Herz klopfte schneller bei der grauenhaften Vorstellung, wie der rasende Hund in Panik unsere Gesichter zerbiss.
Schnell rief ich Sharmila, unser Hausmädchen, damit sie mir beim Saubermachen helfen möge. Aber ach, sie brauchte ewig. Als sie endlich völlig aufgelöst im noch immer nassen Flur erschien, erkannte ich, was sie aufgehalten hatte: der Hund hatte ihren Arm blutig gebissen. Ich stürzte zu unserer Hausapotheke und kramte das Desinfektionsmittel hervor. Mithilfe ihres Gatten reinigten wir das Nötigste, ich rief den Taxifahrer unseres Vertrauens an, um ins Krankenhaus zu fahren. Dann zog ich mir eilig Klamotten an – ich war ja noch im Schlafanzug – spritzte etwas Mundwasser zwischen die Zähne und schon fuhren wir los.
Hunde die bellen, beißen auch
Auf dem Weg zum angeblich besten Krankenhaus der Stadt, dem Norvic Hospital, erklärte mir der Fahrer, dass dies völlig überteuert und die Behandlung gegen Tollwut für die Einheimischen ohnehin kostenlos sei. Wegen der Hundeplage hätte die Regierung diesen Service für die einheimische Bevölkerung eingerichtet. Wir sollten besser das Sukraraj Krankenhaus aufsuchen.
Um halb acht erreichten wir das Krankenhaus. Wir betraten das weitläufige Grundstück und gesellten uns zu den bereits wartenden Menschen an der Pforte. Von zwei Schaltern war nur einer besetzt. Davor spielte sich die übliche nepalische Art des Anstellens ab: alle drängten gleichzeitig an den Schalter. Während der Pförtner durch ein Guckloch mit einer Person sprach, wedelten zwei weitere mit irgendwelchen Zetteln und er fertigte alle gleichzeitig ab. Ich stand am Rand und späte auf die blauen Zettel, die alle in den Händen hielten. „Animal Bite“, Tierbiss, stand darauf.
Sharmila erklärte mir, dass die Behandlung erst um acht Uhr beginne. Also warteten wir mit den anderen. Da stand ein Stuhl und ich forderte sie auf, sich darauf zu setzen. Doch sie weigerte sich und bot ihn mir an. Ich fand, es stand ihr zu, sich zu setzen, war sie doch die Patientin. Aber ich spürte, es war wieder eine Hierarchiefrage, und ob ich es wollte oder nicht, war ich doch der Boss und musste mich auf den Stuhl setzen. Also fügte ich mich, während sie sich auf einer Steinmauer vor dem Pförtnerhäuschen niederließ.
Mit einem Mal hatte Sharmila auch einen solchen blauen Zettel in der Hand und wir stellten uns vor der Abteilung für Tierbisse an. Die Tür war mit einem Gitter verschlossen. An der Wand hingen Piktogramme, die anzeigten, wie man sich Hunden gegenüber verhalten solle. Ein rot durchgekreuztes Bild zeigte Kinder, die einen Hund mit Steinen bewarfen. Ich wünschte, alle Kinder des Landes hätten dieses Poster schon betrachtet und hielten sich daran. Schon oft hatte ich beobachtet, wie grausam manche Kinder die Tiere behandelten.
Während wir warteten fiel mir auf, dass die Leute sich ungewöhnlich ordentlich in einer Reihe aufstellten. Ich zählte mindestens fünfzehn Personen, vom Greis bis zum kleinen Jungen. Alle vom Hund gebissen? Die Leute erzählten sich ihre Geschichten und zeigten die Wunden. Ich schluckte. Tatsächlich, alle waren wegen Hundebissen hier.
Landplage Tollwut
Nach einer Weile gab mir Sharmila ein Zeichen, dass wir es bei der Notaufnahme versuchen sollten.
Über eine Rampe betraten wir eine offene Halle. Links vom Eingang befand sich eine abgerundete Theke, offenbar der Empfang. An der Fensterseite standen etwa sechs oder sieben Betten in einer Reihe mit Patienten darauf. Während Sharmila dem beflissen wirkenden Eingangschef in Polohemd und Jeans ihr Anliegen schilderte, schaute ich mich um. Der geräumige Krankenhaussaal glich eher einer rumpeligen Werkstatt.
Hinter einer Säule erkannte ich unbenutzte Betten. Verstaubte Wassergalonen sollten frisches Trinkwasser spenden. Rechts vom Eingang standen medizinische Gerätschaften. In der Mitte des Raumes war noch Platz für eine ganze Kompanie Versehrter. Darin stand eine Helferin mit Mundschutz und fegte Unrat zusammen, dass es nur so staubte. Mir stellten sich die Härchen an den Armen auf. „Hygiene??“, schrie es in mir.
Eine sehr dünn und zerbrechlich wirkende faltige Frau – schwer zu sagen ob sie alt oder ausgezehrt war – wurde in einem verrosteten Rollstuhl aus dem letzten Jahrtausend auf wackeligen Rädern eingeliefert. Die Patienten auf den Betten blickten mit verzogenen Mienen in die Welt – waren dies schmerzverzerrte oder verzweifelte Gesichter?
Der nette Herr am Tresen schickte Sharmila weg. Ich fragte ihn, ob er Englisch spreche und erkundigte mich nach dem aktuellen Stand. Sie würde zunächst eine Tetanusspritze bekommen. Den Wirkstoff kaufte sie gerade in der Apotheke gegenüber dem Krankenhaus für umgerechnet nicht einmal dreißig Cent. Ich fragte, ob sie auch gegen Tollwut gespritzt würde, obwohl Marble ein Haushund sei. „Wir trauen keinem Hund“, erwiderte der Mann. Aber die Behandlung sei kostenlos. Ich bat ihn, ihr zu übersetzen, dass sie sich eine Woche frei nehmen solle. Nach der ersten Behandlung muss sie sich drei weitere Spritzen geben lassen, um den Impfschutz zur Wirkung kommen zu lassen.
Der Traum von Hygiene
Sobald sie wieder da war, kam Bewegung in die Sache. Jemand gebot Sharmila, sie möge sich die Wunde auswaschen. Ich folgte ihr auf die andere Seite des Saals. In einer Ecke befand sich ein mit grauen Schlieren überzogenes Waschbecken, dessen letzte Reinigung vermutlich ungefähr so lange her war wie der letzte Vollmond. Oder ein paar Mondzyklen vorher. Eine verstaubte Wasserfilteranlage versprach sauberes Trinkwasser, doch ich hegte Zweifel, ob der uralte Filter dieses Versprechen einlösen könnte.
Sharmila nahm ein auf Würfelgröße geschrumpftes Stück pinke Seife und reinigte ihre Wunde. Dabei erkannte ich, dass der Hund zweimal zugebissen hatte. Ich half ihr, die zweite Stelle unter ihrem Ärmel einigermaßen schicklich zu erreichen. Dabei überlegte ich, wie viele hundert Patienten diese Seife wohl schon benutzt hatten und ob ich eine hysterische Hygienefanatikerin war.
Zurück am Tresen, versammelten sich fünf junge Damen und Herren, die mit Mundschutz und Arztkittel auf mich wirkten wie Praktikanten, um Sharmila. Neben einem Patientenbett, auf dem eine Frau lag, stand ein Hocker. Ein Mann hatte darauf gesessen, so dass ich angenommen hatte, er gehöre zu ihr. Doch offenbar war er ein anderer Patient, der jetzt von einem Herrn in Zivil, aber mit Mundschutz, verscheucht wurde, um Platz zu machen für Sharmila. Diese setzte sich und die Schwesternschülerinnen scharten sich um sie, offenbar um zuzuschauen, wie Sharmila die Spritzen bekam.
Ich wurde abgelenkt durch einen kleinen Jungen, der mir an der Hand seiner Mutter bereits vor der Abteilung für Tierbisse aufgefallen war. Er zog gerade seine Hosen herunter und präsentierte einen dick angeschwollenen, rot verfärbten Biss, ganz offenbar von einem großen Hund. Wieder stellten sich mir die Härchen an den Armen auf. Die Straßenhunde geraten wirklich zur Plage. Es versteht sich von selbst, dass man Straßenhunde nicht anfassen sollte und falls doch, danach die Hände waschen. Zu den weiteren Überträgern gehören übrigens Affen und Katzen.
Ich war froh um meine Tollwut-Impfung, die ich mir vorab im Tropeninstitut in Berlin besorgt hatte. Was ich aber jetzt erst erfahren habe: auch mit Impfung muss man innerhalb von achtundvierzig Stunden nach einem Biss zum Arzt und sich nachimpfen lassen.
Heilung zum Selbstkostenpreis
Nachdem Sharmila versorgt war, gingen wir nochmal zur Apotheke und ich besorgte ihr eine Medizin, die wir selbstverständlich selbst bezahlen mussten. Die Wunde solle nicht verschlossen werden, damit sie besser heile, lautete das Argument auf meine Nachfrage, warum sie keine Bandage bekäme.
Sobald ich wieder zu Hause war, reinigte ich stundenlang die Wohnung und ich schwor mir, dem Hund nie wieder Kekse zu geben. Nach zehn Tagen sollten wir den Zustand des Hundes überprüfen. Hoffen wir, dass er nicht von Tollwut, sondern nur von einer Kekssucht befallen ist.

Der beste Freund des Menschen: Kekse